Ist der Tonraum flach oder gekrümmt?
Dabei spielt die folgende hörpsychologische Tatsache eine Rolle: Wann immer wir zwei Paare von Schwingungen hören, deren Frequenzen dasselbe Zahlenverhältnis bilden, erscheint uns der Abstand der dabei sinnlich empfundenen Tonöhen als gleich. Daraus schließt man das sogenannte Fechnersche Gesetz: Unabhängig von den konkreten Frequenzen entspricht der Vervielfachung von Frequenzen eine Addition der empfundenen Tonhöhenabstände. Wie entsteht daraus ein Tonraum-Modell? Man postuliert zunchst einen AusgangsTonort und versteht dann Oktav-, Quint- und Terz-Fortschreitungen als Fortschreitungen unabhängige Richtungen, weshalb der gesuchte Raum folglich dreidimensional sein muß. Warum sollten diese Richtungen unabhängig voneinander sein? Dazu kann man mathematisch die Begründung anführen, daß 2, 3 und 5 Primzahlen, also teilerfremd sind. In Bezug auf ein Denken in Tonorten muß man dieses Argument jedoch mit allergrößter Vorsicht behandeln, denn es würde implizit unterstellen, daß wir in unserer Tonvorstellung imaginierte Schwingungen zählen. Wir begnügen uns lieber mit der Tatsache, daß die Musiktheorie zu einer räumlichen Metapher des Tondenkens gelangt ist. In Abschnitt 4 werden wir über alternative Argumente zugunsten einer solchen Auffassung nachdenken. Die Abbildung 1 zeigt den dreidimensionalen Eulerschen Tonraum. Abbildung 1: Der Eulersche Tonraum Ein Phänomen mit wichtigen Implikationen ist das der Oktavidentifikation. Damit ist gemeint, daß man Tonorte im Eulerschen Tonraum, die man durch Schritte in Oktavrichtung erreichen kann, identifiziert. Bei dieser Auffassung werden die identifizierten Tonorte auf einer höheren Abstraktionsstufe als einundderselbe Tonort in einem nur noch zweidimensionalen Raum angesehen. Dabei kann ein Theoretiker entweder die Oktavidentifikation einfach als gegeben erachten und von vorn herein jene abstrakteren Tonorte als die eigentlichen Tonorte ansehen, oder er kann die Oktavidentifikation innerhalb seiner Theorie als ein eigens zu behandelndes Phänomen betrachten. Wir machen uns das Leben etwas leichter und folgen der verbreiteten ersten Auffassung. Mathematisch bedeutet dies, daß wir einen zweidimensionalen Raum von Tonorten betrachten, der vom Quint-Vektor und vom Terz-Vektor aufgespannt wird. Wir sprechen dabei vom Eulernetz. Man findet es in vielen Büchern zur Harmonielehre (siehe Abbildung 2). Zur Erinnerung: Vektoren sind bestimmt durch eine Richtung und einen Betrag. Im Laufe dieses Beitrages wird es darum gehen, dieses Modell zu modifizieren, um dadurch das Töne-Noten-Tasten-Problem zu lösen. Zuvor wollen wir kurz darüber nachdenken, was es überhaupt bedeuten kann, ein geometrisches Modell für das Tondenken zu verwenden. Für Mathematiker ist es heute ganz selbstverständlich, sich mit abstrakten Räumen in soundsoviel Dimensionen und den merkwürdigsten Eigenschaften zu beschäftigen.
Aber warum tun sie das, und was bedeuten diese Räume? Durch die Erfahrungen, die wir mit unseren Körperbewegungen und Sinneseindrücken von Kindesbeinen an machen, gewinnen wir eine vertraute Anschauung vom dreidimensionalen Raum. Dieser Raum ist für uns einfach da. Die Entstehung vieler älterer und jüngerer sprachlicher Ausdrücke und redebegleitender Gesten zeigt, daß wir bei der Erschließung anderer Erfahrungsbereiche ebenfalls von der räumlichen Anschauung Gebrauch machen. Wenn wir beispielsweise von hohen und tiefen Tönen sprechen, so kann man das eine räumliche Metapher nennen. Metaphern sind ein So-Tun-Als-Ob. Man überträgt etwas noch unvollkommen Verstandenes in einen vertrauten Bereich, um dort damit besser operieren zu können. Insofern stehen dahinter so etwas wie Gedankenexperimente. Die im Beispiel genannte Metapher der Ton-Höhe ist offenbar eine sehr gute Wahl, denn nach dem Fechnerschen Gesetz handelt es sich nicht nur um eine reine Anordnung von möglichen Hörempfindungen längs einer Achse, sondern wir können offensichtlich Empfindungsdifferenzen bilden und diese zueinander addieren, ganz so wie wir mit Elle oder Zollstock zu hantieren gewohnt sind. Aber auch die Tätigkeit der Mathematiker hat mit Gedankenexperimenten zu tun. In der Geometrie denken sie sich Symbole aus für die Punkte, Richtungen, Abstände und Winkel und führen damit verschiedene Operationen aus - und zwar zunächst anstelle der vertrauten Operationen, die die räumliche Erfahrung ausmachen. Anstatt beispielsweise einen Kopfstand zu machen, multiplizieren sie einfach die x-Koordinate (Rechts-Links-Richtung) und die z-Koordinate (Oben-Unten-Richtung) aller Punkte mit -1. Sind solche Gedankenexperimente auch räumliche Metaphern? Sie scheinen eher das Gegenstück davon zu sein. Der abstrakte Euklidische Raum mit seinen Transformationen erlaubt es uns, die vertraute Anschauung zusätzlich in der Metapher des mathematischen Modells zu verstehen. Angewandte Modelle sind ebenfalls Metaphern. Allerdings besteht die Mathematik keineswegs nur aus der Aufstellung und Anwendung isolierter Modelle. Die Eigenständigkeit der Mathematik äußert sich darin, daß viele Gedankenexperimente nicht in der direkten Auseinandersetzung mit den außermathematischen Anwendungen vollzogen werden, sondern zu einem großen Teil von innermathematischen Überlegungen ausgelöst werden. Erstaunlich ist, daß dabei hin und wieder brauchbare Modelle ür außermathematische Phänomene zu Tage gefördert werden, die im Sinne der vertrauten Anschauung eher ungewöhnlich sind.
Daß wir uns über solche Modelle wundern, mag daran liegen, daß wir den Übergang von einer räumlichen Metapher zum mathematischen Modell des Euklidischen Raumes mit kartesischen Koordinaten als Selbstverständlichkeit ansehen, und dabei vergessen, daß sich räumliche Metaphern der vertrauten räumlichen Anschauung lediglich bedienen, um einen anderen Erfahrungsbereich besser zu verstehen. Bei dieser Verkettung kann es leicht passieren, daß in ein mathematisches Modell mehr Annahmen einfließen als nötig sind. Ob sich das Modell des gekrümmte Tonraumes, um das es in diesem Beitrag geht, für die Musiktheorie als brauchbar herausstellt, ist noch eine offene Frage. Auf jeden Fall ist er unanschaulich im Sinne unserer vertrauten räumlichen Erfahrung. Fragen wir uns also, welche Gründe das Eulernetz rechtfertigen, so wie wir es oben kennengelernt haben? Einige Theoretiker benutzen es vielleicht nur als Gedächtnisstütze, um für sich selbst einen geordneten Überblick über das Tonsystem zu haben. Da ihnen der Euklidische Raum am besten vertraut ist, läßt sich dagegen nichts einwenden. Bei jenen Theoretikern, die das Eulernetz als Modell für eine räumliche Metapher des Tondenkens verwenden, muß man genauer herausfinden, was diese Metapher motiviert. Konkret geht es beim Eulernetz um die Frage, wie das Verhältnis von Tonhöhen und Tonorten verstanden wird. Ist die Tonhöhe untrennbarer Bestandteil oder eher ein selbständiger Vermittler des Denkens in Tonorten? Im ersten Falle unterstellt man, daß an jeden Tonort eine zugehörige mitgedachte Tonhöhe [4] gekoppelt ist. Die Addition von Tonvektoren würde dann mit der Addition von Tonhöhendifferenzen korrespondieren. Oder anders gesagt: Die Tonhöhe wäre eine lineare Funktion des Tonortes. Dies wäre ein plausible Rechtfertigung des Eulernetzes als Modell des Tondenkens. Wie wir gleich sehen werden, hat man dann aber das Töne-Noten-Tasten-Problem. Verzichtet man aber auf diese feste Koppelung von Tonort und Tonhöhe, so verschwindet auch die Notwendigkeit, das Fortschreiten von Tonort zu Tonort mit der Addition von Tonvektoren in einem flachen Raum zu beschreiben. Ein paar Grundkenntnisse in Notenkunde werden im folgenden vorausgesetzt, und erinnern wir hier an wenige elementare Fakten, die im folgenden wichtig sind. In Abbildung 2 sind die Tonorte des Eulernetzes mit Namen versehen, die Dich bestimmt an Notennamen erinnern. Auf der mittleren horizontalen Achse stehen von links nach rechts folgende Bezeichnungen: . . . Eb Bb F C G D A E B . . . Die Punkte deuten an, daß
sich der Tonraum nach links und rechts beliebig weit
ausdehnt. Die sieben Namen F, C, G, D, A, E und B
[5] bezeichnen die sogenannten Stammtöne.
Ihnen entsprechen auf der Klaviertastatur die weißen Tasten.
Doch Vorsicht: Es gibt noch andere Noten, denen ebenfalls
weiße Tasten entsprechen, z.B. B# (in Deutsch His),
E# oder Dbb. Das hat bereits mit dem
Noten-Tasten-Problem zu tun. Erinnern wir uns an die Definition des Tonnetzes! Die Schritte in vertikaler Richtung [6] sind reine Terzen, denen das Frequenzverhältnis 5:4 enspricht. Die Namensverteilung im Eulernetz macht deutlich, daß die Notenschrift nicht unterscheidet zwischen Quint- und Terzbeziehungen. Wenn man vom zentralen Tonort C aus vier Quintschritte nach rechts macht, erreicht man den Tort E. Geht man hingegen einen Terzschritt nach oben, so erreicht man den Tonort E-. Beiden Tonorten E und E- entspricht dieselbe Note. Das hinzugefügte Minuszeichen zeigt an, daß die Tonhöhe der Terz (nach geeigneter Oktavversetzung um 2 Oktaven nach oben) um ein sogenanntes syntonisches Komma kleiner ist als die vierfache Quinte. Dabei handelt es sich um eine kleine Tonhöhendifferenz von etwa dem Fünftel eines Halbtons. Dahinter steht ein Frequenzverhältnis 81/80, denn . Wie schon eingangs erwähnt, äußert sich das Töne-Noten-Problem in konkurrierenden Tonbeziehungen, deren Träger einunddieselben Noten sind. Dazu betrachten wir nun zwei Beispiele. Das erste hat der berühmte Musikwissenschaftler Hugo Riemann in einem Aufsatz aus dem Jahre 1914 aufgeführt (siehe [L4]). Er hat es eigens so konstruiert, daß das Problem besonders deutlich wird: Das Beispiel bringt eine Folge von fünf Dreiklängen. Jeweils einer der Töne ist in der Oktave verdoppelt. Dadurch wird der Satz vierstimmig.
Dur- und Moll-Dreiklängen entsprechen im Eulernetz jeweils Dreiecke. Bei Dur-Dreiklängen gesellen sich zum Tonort des Grundtons dessen rechter und oberer Nachbar (Quint-Tonort und Durterz-Tonort). Bei Moll-Dreiklängen gesellen sich zum Tonort des Grundtons dessen rechter Nachbar (Quint-Tonort), sowie der untere Nachbar des Quint-Tonorts (Mollterz-Tonort).
Welche Tonbeziehungen lassen sich auf den ersten Blick aus dem Notenbeispiel ablesen? Wir machen zwei Beobachtungen:
Wenn man sich lediglich an die zweite der beiden Beobachtungen hält, so ergibt sich im Eulernetz eine Wanderung in vier Schritten wie sie Abbildung 6 zu sehen ist. Die schrittweise Vererbung der Tonbeziehungen von Akkord zu Akkord ist offensichtlich unverträglich mit der Beobachtung (1), nach der die Tonorte des ersten Akkords mit denen des letzten übereinstimmen. Das Töne-Noten-Problem kann sich demnach immer dann ergeben, wenn man in einer Partitur Quint- und Terzbeziehungen finden und miteinander verknüpfen will, obwohl die Notenschrift die Unterscheidung dieser beiden Arten der Tonbeziehung nicht unterstützt.
Abbildung 7: Reduzierte Notation der ersten acht Takte des Präludiums in C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier - Teil I von Johann Sebastian Bach. Der Tonort E- der
Oberstimme in Takt 5 steht in Terzbeziehung zum Tonort C
der Baßstimme. Von dort aus macht die Oberstimme vier
Quartschritte (bzw. Quintschritte in umgekehrter Richtung
von rechts nach links im Tonnetz). Nach diesen vier
Schritten erreicht die Oberstimme einen Tonort, der
ebenfalls mit dem Tonort C zusammenfallen sollte. Im
Eulernetz ist dies aber wiederum nicht möglich. Entweder
kann einer der vier Schritte keine gewöhnliche Quarte sein
oder aber die Verknüpfung der vier Schritte keine Terz.
Kurzum: Von einer Vermeidung solcher Konflikte kann keine
Rede sein. Die Entscheidung, ob man
die Dur-Tonleiter im Eulernetz mit sieben oder jenen acht
Tonorten modelliert, ist alles andere als harmlos! Das
Eulernetz ist ein homoger Raum, d.h., es hat überall
dieselbe Struktur. Dur- und Molldreiklänge sollten folglich
auch überall dieselbe Dreiecks-Struktur haben, solange man
keine Gründe für eine abweichende Auffassung vorbringt. Dies
wäre ein Argument zugunsten der 8 Töne mit der Konsequenz,
daß man das Töne-Noten-Problem hat: Wie ist es möglich, daß
wir in unserem Tondenken scheinbar unmerklich vom Tonort
D- zum Tonort D wechseln können? Wenn man die
Raummetapher des Tondenkens ernst nimmt, dann ist das ein
weiter Weg. Zwei Quintschritte sind mehr als einer, und erst
recht sind 4 Quintschritte + 1 Terzschritt (nach unten) ein
Weg, der dem Tondenken mehr auffallen sollte als
beispielweise ein einziger Quintschritt. Sich dadurch aus
der Affäre zu ziehen, daß man sich auf die kleine
Tonhöhendifferenz des syntonischen Kommas beruft hieße
anzunehmen, daß das Tondenken im Eulergitter ständig
unterbrochen wird, um an anderen Stellen jeweils neu
anzusetzen - ein ziemlich merkwürdiges Bild!
Andererseits: Mit einer festen Tonort-Skala, d.h. den sieben
fixierten Tonorten hat man zwar das Töne-Noten-Problem nicht
mehr, aber man gibt auch die tiefere Motivation für die
Raum-Metapher des Denkens als ein Fortschreiten von Tonort
zu Tonort auf, insofern man die Homogenität des Raumes
mißachtet. Die Tatsache, daß dem D-Moll-Dreiklang in
Riemanns Beispiel ein A-Dur-Dreiklang als Neben -
Dominante vorangehen kann, zieht nach Riemanns Ansicht
mit Notwendigkeit nach sich, daß wir uns den D-Moll-Dreiklang
als echten Moll-Dreiklang vorstellen. Das Modell einer
festen Tonortskala zusammen mit dem falschen Moll-Dreiklang
ruft eher die eingangs gegebene Assoziation einer zappelnden
Kommode hervor, deren Schubladen die Skalentöne sind. Seit mehreren Jahrhunderten baut man Orgeln, Cembali, Klaviere, und andere Tasteninstrumente. Ungeachtet der vielen verschiedenen Arten, diese Instrumente zu stimmen, ist ihnen gemein, daß pro Oktave zwölf Tasten (oder) Pedale zur Verfügung stehen. Aus dem Paragraphen über das Töne-Noten-Problem wissen wir, daß sich das Notensystem in Richtung der B's und der Kreuze beliebig weit ausdehnen kann und in der Praxis immerhin 5 mal 7 = 35 Noten kennt. Folglich gibt es mehrere Noten, die jeweils mit derselben Taste gespielt werden müssen. Ein typisches Beispiel in der tonalen Umgebung von C-Dur/Moll sind die Noten Ab und G#:
Man muß sich fragen: Warum baut man dann nicht Tasteninstrumente mit mehr Tasten? Diese Frage haben sich auch Theoretiker, Musiker und Instrumentenbauer immer wieder gestellt. Dabei wurden auch verschiedene Vorschläge gemacht und in die Tat umgesetzt. In den folgenden beiden Abbildungen seht Ihr eine Rekonstruktion des Archicembalos von Nicola Vicentino aus dem 16. Jahrhundert und ein Archiphon aus dem 20. Jahrhundert, das auf Ideen von Leonhard Euler zurückgeht. Solche Instrumente stehen jedoch vor allem im Museum und werden nur von ganz wenigen Enthusiasten in der Musikpraxis eingesetzt. Warum ist die Geschichte des Baus von Tasteninstrumenten nicht anders verlaufen? Handelt es sich hier um zufällige Entscheidungen, die dann aus Bequemlichkeit und wirtschaftlichen Günden beibehalten wurden? Zumindest ist die Frage berechtigt, ob sich in dieser Entwicklung nicht auch Spuren des Tondenkens finden lassen. Zwar haben wir eingangs gefordert, die Ebenen der Klangerzeugung, der Tonempfindung und des Tondenkens auseinanderzuhalten. Aber andererseits gibt es natürlich vermittelnde Transformationen zwischen diesen Ebenen. Eigentlich müßten doch Eigenschaften des Tondenkens geradezu Einfluß auf den Bau von Klangerzeugern haben.
Abbildung 11: Herman van der Horst: Archiphon (1970). Elektronische Version der von Adriaan Fokker gebauten Euler-Fokker-Orgeln von 1943 bzw. 1951 (siehe http://www.xs4all.nl/ huygensf/english/index.html). Im Zusammenhang mit der musiktheoretischen Untersuchung von Tasteninstrumenten spielt die Diskussion von Stimmungsfragen eine wichtige Rolle.
Abbildung 12: Umdeutung von As in G# beim Übergang von c-moll nach a-moll. Denn bei einer Rückung geht es nicht nur um einzelne Tonbeziehungen, sondern um ein ganzes Gefüge von Tonbeziehungen, das durch Verschiebung zu einem analogen Gefüge in Beziehung gesetzt wird. Wir betrachten zwei Beispiele mehrfacher harmonischer Rückungen, die verbunden mit einer Rückkehr zum Ausgangspunkt ernstgemeinte enharmonische Verwechslungen beinhalten. Beide Beispiele haben zudem einen außermusikalischen Bezug, der ebenfalls mit der Metapher des Fortschreitens zu tun hat. Im Gesang der älteren Pilger aus Richard Wagners Oper Tannhäuser (Szene III) läßt der Komponist die Pilger zur Buße gen Rom und damit der Erlösung entgegenschreiten, indem er sie auch musikalisch in fortgesetzten Kleinterzrückungen durch den Tonraum schreiten lässt.
Die Kleinterzrückungen
führen von E-moll und G-Moll und Bb-Moll immer weiter nach
links in die b-Richtung des Notensystems. Nach der
enharmonischen Verwechslung zwischen Takt 5 und 6 kehrt der
Satz jedoch aus #-Richtung, von rechts, zum Ausgangspunkt
zurück. Wie klnnen wir im Sinne der Raummetapher des
Tondenkens von rechts kommen, wenn wir zuvor konsequent nach
links fortgeschritten sind? [10]
Das Stück wandert in Großterzschritten von B (Takt 1)
über G (Takt 2) nach Eb (Takt 3). In Takt 4
wird nochmal etwas Anlauf genommen, um die gleiche
Schrittfolge eine Terz tiefer zu wiederholen. Folglich müßte
es von G (Takt 5) über Eb (Takt 6) nach Cb
wandern (Takt sieben). Stattdessen stellt sich aber die
Überraschung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt ein. 4 Quinten und Leitquarten - ein musikalisches Scrabblespiel Unsere drei Beispiele von Bach (1722), Wagner (1845), und Coltrane (1959) liegen jeweils mehr als einen Jahrhundertschritt auseinander. Trotz erheblicher Unterschiede in der jeweiligen Auswahl und Verwendung von Tonbeziehungen ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, daß sich ein gemeinsames Prinzip des Erschließens von Tonbeziehungen in einem geeigneten mathematischen Modell formulieren läßt. Ein solcher Versuch ist Gegenstand der Abschnitte 5, 6 und 7 dieses Aufsatzes. Dabei werden sich das Töne-Noten-Problem und das Noten-Tasten-Problem (bzw. deren Lösungen) als zwei Seiten einundderselben Medaille erweisen. Abbildung 15: Unendliche Treppe von M.C. Escher: Gleicht das Tondenken in John Coltranes Stück "Giant Steps" dem Fortschreiten auf einer solchen zyklischen Treppe?
Wenn man versucht, das
Problem nach der Art zu lösen, wie das in besagten
Abschnitten vorgeführt wird, so merkt man nach längerem
Knobeln, daß ein ganz bestimmter mathematischer Trick
angewendet werden muß, sonst gehen die Rechnungen einfach
nicht auf. Dieser Trick hat allerdings weitreichende
Konsequenzen für die musiktheoretische Interpretation des
mathematischen Modells. Es ist deshalb sinnvoll, diese
Konsequenzen schon vorbereitend anzudeuten [13].
Worauf wollen wir mit
diesen Argumenten hinaus? Einerseits ist es legitim, ein
Tonraum-Modell wie das Eulernetz ernst zu nehmen und damit
zu experimentieren, ohne dogmatisch an jedem Detail zu
kleben, das für seine Entstehung wichtig gewesen sein mag.
Andererseits ist die Betrachtung der rationalen
Frequenzverhältnisse seit der Antike ein zentraler
Bestandteil der Musiktheorie gewesen, den man nicht ohne
triftigen Grund über Bord wirft. Kurzum, wir verfolgen zwei
Strategien: Einerseits halten wir es für möglich, daß die
Betrachtung von Frequenzverhältnissen ein ungeeigneter
Ansatz für die Untersuchung des Tondenkens ist, und
andererseits halten wir im Verlauf der Untersuchungen
trotzdem die Augen (und Ohren) offen, um uns interessante
Beobachtungen nicht entgehen zu lassen. q + -q = 0. Erinnern wir uns nun: Das Töne-Noten-Problem besteht darin, daß der syntonische Tonvektor s nicht der Nullvektor ist, und wir ihn dennoch (scheinbar) damit verwechseln. Damit ist im Modell das zweite Elementarintervall, die Leitquarte p geboren: q + p = s. Hierbei werden zwei zentrale Entscheidungen getroffen. Es wird ein zweites Quartintervall als elementarer Tonvektor eingeführt, welches im Eulernetz nicht mit der Quarte übereinstimmt und dennoch quintartig, d.h. der Quinte ebenbürtig ist. Darüberhinaus unterscheiden sich Quarte und Leitquarte genau um den syntonischen Tonvektor, der unser erstes Problem darstellt. Bevor wir uns von dem Nutzen überzeugen, den wir aus dieser Manipulation für die Lösung der beiden Probleme ziehen können, wollen wir die Leitquarte und ihr Umkehrintervall, die Leitquinte in musikalischer Hinsicht untersuchen. Die beiden Termini sind zunächst leere Namenshülsen. Was eine musiktheoretische Rechtfertigung verlangt, ist die Ablösung der Terz als einer elementaren Tonfortschreitung zugunsten der Leitquarte. Wie schon angedeutet, rechnen wir auch das zugehörige Frequenzverhältnis der Leitquarte aus: Eine erste Annäherung an eine musiktheoretische Rechfertigung der Leitquarte können wir aus der Beobachtung ziehen, die wir bei den Takten 5 bis 8 des Bach-Präludiums gemacht haben. Zur Erinnerung: In der Oberstimme kann entweder einer der vier Schritte keine gewöhnliche Quarte sein oder aber die Verknüpfung der vier Schritte keine Terz. Ein Ausweg bestünde darin, zugunsten der Terz einen der vier Quartschritte als Leitquartschritt zu interpretieren: Prinzipiell gibt es dazu vier Möglichkeiten. Wenn man den zweiten Schritt von der Note A nach zur Note D als Leitquarte (bzw. Leitquinte nach unten) aufzufasst, so entspricht dies gerade der einzigen Möglichkeit innerhalb der Tonort-Dur-Skala, die genau eine Leitquarte enthält, nämlich von A- nach D.
Die Terz (nach unten)
läßt sich aus vier elementaren Schritten Leitquart + Quart +
Quart + Quart zusammensetzen. Die Auffassung dieser Schritte
als elementar wäre dann gerechtfertigt, wenn man den
Melodieverlauf der Oberstimme mit demjenigen Weg in
Verbindung bringen kann, den das Denken nehmen müßte, um die
Terz zu verstehen. Terzen und Quarten gehörten aber in der
Musikpraxis des 18. Jahrhunderts zum selbstverständlichen
Grundvokabular, so daß aus praktischer Sicht die Frage nach
einem elementaren Intervall sehr schwer zu entscheiden ist.
Es kann sich deshalb als aufschlußreich erweisen, von dort
aus zwei reichliche Jahrhundertschritte in die Vergangheit
zu machen, um einige Begleiterscheinungen unter die Lupe zu
nehmen, die mit der Emanzipation der Terzen im Kontrapunkt
einhergingen. In der mehrstimmigen Musik äußern sich Tonbeziehungen vordergündig auf zwei Weisen. In Anbetracht der Notenschrift kann man sie horizontale und vertikale nennen. Die horizontalen Beziehungen betreffen aufeinanderfolgende Noten bzw. Töne innerhalb einzelner Stimmen. Die vertikalen Beziehungen betreffen gleichzeitig erklingende Noten bzw. Töne aus verschiedenen Stimmen. Auf den ersten Blick gleicht also die mehrstimmige Musik einem Scrabble-Spiel. In der folgenden Abbildung sieht man links ein Buchstaben-Scrabble und rechts eine kleine zweistimmige Partitur. Die Wörter im Scrabble entsprechen dabei gebräuchlichen Namen der mit Strichen markierten horizontalen und vertikalen Tonbeziehungen [14].
Auf den zweiten Blick merkt man jedoch, daß dieser Vergleich hinkt. Die Tonbeziehungen in der mehrstimmigen Musik sind nicht immer horizontal oder vertikal, sondern sie können auch um die Ecke gehen. Bei der Formulierung des Töne-Noten-Problems haben wir es als Selbstverständlichkeit angesehen, auch Tonbeziehungen um die Ecke zu lesen. Einerseits hatten wir liegenbleibende und wiederkehrende Töne berücksichtigt und andererseits die Tonbeziehungen innerhalb der Akkorde. Es gibt einen suggestiven Begriff in der Alten Musik, der eine problematische Konstellation auf den Punkt bringt, die beim Um-die-Ecke-Lesen auftreten kann: der Querstand. Damit meinen die Musiktheoretiker das dichte Aufeinanderfolgenden einer unalterierten und einer alterierten Variante desselben Stammtons in zwei Stimmen, z.B. B und Bb oder F und F#. Diese Tonbeziehungen gehen "quer"durch die Partitur. Damit ist jedenfalls klar, daß das Scrabble-Modell für den Kontrapunkt zu einfach ist [15]. Wir wollen nun das kleine Noten-Beispiel aus Abbildung 16 mit Tonorten des Eulernetzes interpretieren. Rechtfertigen läßt sich ein solcher Versuch aus der Kombination zweier Argumente:
Im Sinne des Arguments 1
sind die Tonbeziehungen, die den drei vertikalen Intervallen
kleine Sexte B - G, große Sexte A - F # und
Oktave G - G jeweils einzeln zuzuordnen sind, klar:
Der Oktave entspricht zweimal derselbe Tonort, der kleinen
Sexte entspicht ein Terzschritt nach unten und der großen
Sexte entspricht ein Quartschritt plus ein Terzschritt. Es
kommt also auf die Diskussion der horizontalen
Tonbeziehungen an. In der Unterstimme, dem Tenor, bieten
sich zwei Alternativen an: Zunächst ist für die Tonbeziehung
vom A zum G ein doppelter Quartschritt sehr
plausibel. Dies wird insbesondere bei der dreistimmigen
Kadenz deutlich, die wir weiter unten betrachten. Aber der
erste Tenorton B kann entweder als Terz inbezug auf
den Schlußton gedeutet werden oder aber als doppelter
Quartschritt zum nachfolgenden A. Im ersten Fall
würden sich Tonbeziehungen nach der Art der Tonort-Dur-Skala
ergeben, ganz wie beim Bachbeispiel. Insbesondere würde eine
Leitquarte in die horizontale Beziehung von B nach
A eingehen. Im zweiten Falle würde ein
Töne-Noten-Problem entstehen, denn in der Oberstimme, dem
Diskant, würden der ersten und dritten Note die
verschiedenen Tonorte G- und G zukommen. Es
gibt durchaus Argumente zugunsten der zweiten Auffassung.
Erstens ist der Tenor die bestimmende Stimme im frühen
Kontrapunkt. Zweitens war das Modell der pythagoräischen
Skala, d.h. das einer Quintenkette für die Erklärung der
melodischen Skalen, der Modi, sehr verbreitet.
Drittens ergibt die folgende dreistimmige Version dieser
Kadenz, daß die sogenannte Vorhaltsquarte zwischen Baß und
Diskant sich als Leitquarte herausstellt. Hierzu muß angemerkt werden, daß es sich bei diesem Beipiel um eine typische Schlußbildung handelt, deren einzelne Bestandteile gleichermaßen zusammenspielen. Wenn es sich insbesondere um den sogenannten mixolydischen Modus handelt, bei dem der Ton F Stammton ist, muß dennoch in der Schlußbildung der erhöhte untere Leitton F# verwendet werden, der seinerseits daran gebunden ist, daß er Diskantton einer imperfekten Konsonanz ist, die von einer perfekten Konsonanz gefolgt wird. Diese Bedingungen haben zusammen immer zur Folge, daß ein Leitton von einer Quintgeraden des Eulernetzes in eine benachbarte hinüberleitet. Ebenso kann die Melodik des Diskants deswegen nicht ausschließlich pythagoräisch sein. Die Wahl der Termini Leitquarte und Leitquinte erhält durch diese Beobachtung ihre Berechtigung, denn auch diese Intervalle leiten von einer Quintgeraden in eine benachbarte.
Wir schließen diesen Ausflug in musiktheoretische Erörterungen mit folgen der Bemerkung ab. Die Skepsis gegenüber einer eineindeutigen fixierten Zuordnung der Noten eines Modus zu Tonorten des Eulernetzes, die wir im Falle der Durtonleiter wegen des falschen D-Moll-Dreiklangs hegten, ist auch hier bei der Diskussion der Modi angebracht. Erinnern wir uns: Dort war es die Homogenität des Raumes, die gegen solch eine Auffassung sprach. Eine Schlüsselrolle könnten hier die Leittöne spielen. Die Verwendung der Akzidentien ist an ganz spezielle Situationen gebunden nach der Art der beiden Beispiele. Dies könnte ein Indiz dafür sein, daß auch in den Fällen, in denen der Leitton nicht erhöht oder erniedrigt werden muß, weil er schon die richtige Note hat, ihm dennoch ein anderer Tonort zukommt, als in den Situationen, wo er nicht zwecks Schlußbildung zur Finalis (dem Hauptton des Modus) geführt wird [18]. 5 Das Rechnen im gekrümmten Tonraum Das Eulernetz hat zwei Dimensionen. Die musikalisch ausgezeichneten Richtungen sind die ursprünglich Quint- und die Terzrichtung, bzw. nach unserer Modifikation die Quint- und die Leitquartrichtung. Von jedem Ton aus sind diese Richtungen dieselben, was daran liegt, daß das Eulergitter flach ist. Solange man in derselben Richtung fortschreitet, so verläuft der zurückgelegte Weg stets entlang von Geraden. Rechnerisch bedeutet dies, daß man von einem Tonort T = (a, b) startet und immer wieder denselben Vektor v = (s, t) addiert um zum nächsten Tonort zu gelangen. Wenn wir Quinte und Leitquarte als Basisrichtungen wählen, dann entspricht dem fortgesetzten Fortschreiten in Quintrichtung die k-malige Addition des Vektors (1, 0): (a, b), (a + 1, b), (a + 2, b), ..., (a + k, b) Bei einer fortgesetzten Fortschreitung um eine große Terz addiert man k mal den Vektor (3, -1) (a, b), (a + 3, b - 1), (a + 6, b - 2), ..., (a + 3k, b - k) Wie die folgende Abbildung klarmacht, gibt es jedoch Räume, wo man sich zwar in einigen Richtungen auf Geraden fortschreiten kann, aber in anderen Richtungen sind die Wege die man bei Einhalten derselben Richtung zurücklegt, gekrümmt. Außerdem variieren die einander entsprechenden Richtungen von Punkt zu Punkt. Wie soll man das verstehen? Man denke sich ein Gitter aus Stäben, die man verlängern, verkürzen und in sich verdrehen kann, die jedoch immer gerade bleiben (so etwas wie Antennen von einem Kofferradio). Solange das Gitter flach ist, kann man in jedem Gitterpunkt dieselben beiden Richtungen identifizieren (z.B. nach rechts und nach hinten). Wenn man dann das Gitter im Raum verdreht, so kann man noch immer in jedem Punkt zwei Richtungen identifizieren und einander zuordnen, allerdings variieren sie von Punkt zu Punkt. (siehe Abbildung 18) Abbildung 18: Vom flachen zum gekrümmten Tonraum: Oben verläuft die Quintrichtung für jeden Gitterpunkt von links nach rechts und die Leitquartrichtung ist jeweils senkrecht dazu und ist für alle Gitterpunkte dieselbe. Wenn man das Gitter wie unten verdreht, dann variiert die Leitquartrichtung individuell für jeden Gitterpunkt. Dasselbe gilt für die Quintrichtung der mittleren Gitterlinie im Vergleich zu jenen der hinteren und vorderen Ränder des Gitters. Oben sind es drei parallele Geraden. Nach der Verdrehung sind es immer noch Geraden, aber sie haben unterschiedliche Richtungen. Wie soll man in solch einem Raum rechnen? Es ist ein
bisschen
komplizierter, aber nicht sehr. Zuerst sucht man sich einen
flachen Umgebungsraum U, der unseren gekrümmten Raum
S enthält. U hat mehr Dimensionen als S.
Die Geraden im gekrümmten Raum sind dann ganz gewöhnliche
Geraden im flachen Umgebungsraum. Da der Umgebungsraum aber
nun auch Punkte enthält, die nicht zu unserem Teilraum S
gehören, und wir diese auch nicht durch Fortschreitungen
erreichen wollen, brauchen wir ein Kriterium, mit dem man
überprüfen kann, ob ein Punkt zu S gehört oder nicht.
Schließlich müssen wir für jeden Tonort T in S
wissen, welches die Quintund welches die Leitquartrichtung
ist. Dies sind Vektoren qT und pT
im Umgebungsraum U, deren Koordinaten, von T
abhängen. Ein Schritt von T aus in Quintrichtung
führt dann zum Tonort T + qT und in
Leitquartrichtung zum Tonort T + pT
.
ad - bc = 1.
und . Für die Rechnungen ist es sehr praktisch, eine Kurzschrift für die elementaren Tonfortschreitungen zu verwenden. Anstelle von T + qT schreiben wir . Damit bezeichnen wir den Tonort, den wir von T aus mit einem Quintschritt erreichen. . Nun müssen wir überprüfen, ob die Quintfortschreitung überhaupt innerhalb des Raumes S möglich ist. Dazu muß das Kriterium von Punkt (2) für den Tonort überprüft werden: a(d + c) - (b + a)c = ad + ac - bc - ac = ad - bc = 1. Das heißt: Solange T in S liegt, liegt auch in S. Anstelle von T + pT schreiben wir . Damit bezeichnen wir den Tonort, den wir von T aus mit einem Leitquartschritt erreichen. . Auch hier wir überprüfen wir, ob die Leitquartfortschreitung tatsächlich immer eine Fortschreitung innerhalb des Raumes S ist: (a + b)d - b(c + d) = ad + bd - bc - bd = ad - bc = 1. Solange T in S
liegt, liegt auch in S.
, Zum Abschluß dieses mathematischen Intermezzos errechnen wir eine Fortschreitung in zwei Schritten, bei der ein Richtungswechsel stattfindet. Von einem Tonort T aus berechnen wir den Tonort , den wir erreichen nach einem Quintschritt, der gefolgt wird von einem Leitquartschritt. . 6 Lösung des Töne-Noten-Problems
Erinnern wir uns: Das Töne-Noten-Problem besteht darin, eine
Erklärung dafür zu finden, wie es möglich ist, daß das
Tondenken scheinbar unmerklich die große Distanz zwischen
den Tonorten D- und D zurückzulegen vermag.
Diese Distanz muß im Eulernetz deswegen zurückgelegt werden,
um in Riemanns Beispiel und ebenso in den ersten vier Takten
des Bach-Präludiums eine Rückkehr zum Ausgangsdreiklang zu
gewährleisten, wie sie von den Noten suggeriert wird. Dabei
stellt sich zunächst die Frage, was es im Modell überhaupt
bedeuten kann, daß eine Fortschreitung scheinbar unmerklich
stattfindet. Wie können wir mit diesen
Mitteln eine scheinbar unmerkliche Fortschreitung
charakterisieren? Es liegt nahe, darunter solche
Fortschreitungen zu verstehen, deren Gesamttendenz
verschwindet, d.h. Fortschreitungen, die scheinbar an den
Ausgangstonort zurückführen und deshalb einen zirkulären
Fortschreitungsplan besitzen. Darin müssen genausoviele
Quarten vorkommen, wie Quinten da sind, und es müssen
genausoviele Leitquinten vorkommen, wie Quarten da sind. Wir
schauen uns einen solchen Fortschreitungsplan im Eulernetz
an (siehe Abbildung): . Die folgende Abbildung zeigt diese Fortschreitung im gekrümmten Tonraum, und dazu sehen wir vom Tonort D- aus abermals den Plan der scheinbar unmerklichen Fortschreitung im Tangentialraum des Tonorten D-: Abbildung 20: Zwei Fortschreitungspläne im Eulernetz, die vom problematischen Tonort D- ausgehen. Der linke Plan geht in zwei Schritten über das erwünschte G zum Grundton C unserer betrachten Akkordfolge und kehrt in weiteren zwei Schritten über das unerwünschte G- scheinbar zum Ausgangstonort D- zuück. Der rechte Plan nimmt stattdessen in zwei Schritten die erforderliche Korrektur vom D- zum D vor und zwar mit dem Umweg über A-. Dem linken Plan entspricht eine scheinbar unmerkliche Fortschreitung, während der rechte das Töne-Noten-Problem verkörpert.
Nun rechnen wir den tatsächlichen Ziel-Tonort nach den vier
Schritten aus:
Ein Vergleich der beiden Zieltonorte ergibt, daß beide Fortschreitungspläne zum selben Ziel-Tonort führen. Der erste verkörpert den syntonischen Tonvektor, denn seine Gesamttendenz ist q +p. Die Gesamttendenz des anderen hingegen ist der Nullvektor. Dies löst das Töne-Noten-Problem, denn der Vergleich der beiden Fortschreitungs-Pläne erklärt, wie wir scheinbar den syntonischen Tonvektor mit dem Nullvektor verwechseln können. 7 Lösung des Noten-Tasten-Problems Wie schon angedeutet, erweist sich im Rahmen des Modells vom
gekrümmten Tonraum das Töne-Noten-Problem und das
Noten-Tasten-Problem als zwei Seiten derselben Medaille.
Unser Tondenken macht danach Pläne. Es antizipiert im
Tangentialraum eines Ausgangstons seine eigene Geschichte im
Voraus und kann sogar die Gesamttendenz bestimmen. Man kann
sagen: Wir haben Denkimpulse. Darin gleicht das Modell dem
flachen Eulernetz. Daneben schreitet es aber wirklich von
Tonort zu Tonort fort. Im Falle des Töne-Noten-Problems gab
es eine scheinbar unmerkliche Fortschreitung, die aber
tatsächlich zu einem anderen Tonort führte. Was ist die
Kehrseite dieser Medaille? Die Antwort ist ganz einfach: Das
sind Fortschreitungen, die scheinbar woanders hinführen,
aber tatsächlich zum Ausgangstonort zurückführen. Dies ist
die Modellierung des Überraschungseffekts, der sich bei den
enharmonischen Identifikationen einstellt. (q, q, q, -p, q, q, q, -p, q, q, q, -p). Der Zieltonvektor ist 9q - 3p. Und das ist verschieden vom Nullvektor.
Wie wir sehen, kehren wir
zum Ausgangs-Tonort zurück. (p, -q, p, -q, p, -q, p, -q, p, -q, p, -q). Es handelt sich um einen wiederholten Wechsel von Quart- und Leitquartschritten, wie er etwa buchstäblich in den Grundtönen folgender II - V - Sequenz auftritt. . Sein scheinbarer Zieltonvektor ist 6p-6q. Hier nun die Rechnung:
Diese Überlegungen stellen einen Zusammenhang her zwischen einem mathematischen Modell und zwei musiktheoretischen Problemen, die darin gemeinsam gelöst werden und dadurch stärker aufeinander bezogen werden, als dies bislang getan wurde. Das mathematische Modell wurde hier allerdings nur angedeutet und die Musiktheorie ist voll von anderen interessanten Fragen, die nun ebenfalls zu neuen Antwortversuchen im Lichte des Modells einladen. Literatur[L1] Louis, R. und L. Thuille: Harmonielehre, Stuttgart, 1907. [zurück] [L2] Mazzola, G.: Die Geometrie der Töne, Birkhäuser, Basel 1990. [L3]
Noll, T und A. Nestke: Die Apperzeption von Tönen, siehe [L4] Riemann, H.: Ideen zu einer Lehre von den Tonvorstellungen in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 21/22, Leipzig 1914/15. 1-26. [zurück]
[16] Als perfekte Konsonanzen gelten Einklang (Prime), Oktave und Quinte, als imperfekt gelten die Terzen und Sexten. [zurück] [17] Kurioserweise würde das Frequenzverhältnis 27/ 20 der Leitquarte die Dissonanz dieses Vorhaltsintervalls auch aus der Perspektive der kleinen Zahlenverhältnisse rechtfertigen. Mir ist nicht bekannt, ob dieses Argument jemals angeführt wurde. Dieser Umstand muß sich ohnedies nicht auf die Intonation auswirken, denn die Vorbereitung der Vorhaltsquarte im Diskant sorgt hinreichend für das Herstellen der relevanten Tonbeziehungen. [zurück] [18] Ähnliche Effekte kennt man von den verschiedenen Varianten der Molltonleiter. Wenn dieselbe Stufe sogar um einen Halbton variieren kann, dann sollte man die Variation um ein Komma erst recht für möglich erachten. [zurück] [19] Zur Vereinfachung haben wir die dritte Dimension des Raumes S unterschlagen. [zurück] |
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